Matthäuspassion 2023

Johann Sebastian Bach (1685–1750)

Matthäus-Passion

Passio Domini nostri J. C. secundum Evangelistam Matthaeum BWV 244

Emanuel Tomljenović | Evangelist

Robert Holl | Jesus

Martina Fender | Sopran

Tia Pikija | Sopran

Cornelia Sonnleithner | Alt

Martin Mairinger | Tenor

Wolfgang Bankl | Bass

Capella Savaria (Szombathely)

Chorus angelicus (Varaždin)

Kantorei & Kirchenchor Baden St. Stephan

verCHORxt – Jugendchor der Musikschule Baden (Einstudierung: Cornelia Hübsch)

Jugendchor der Pfarre Baden St. Stephan

Leitung: Anđelko Igrec

MIT ROTER TINTE hat Bach den Text des Evan- gelisten in seine Partitur der Matthäus-Passion eingetragen. Als Zeichen, wie ernst es ihm mit diesem ihm geheiligten Text gewesen ist. Seine Annäherung an die Leidensgeschichte Jesu, wie sie dieser Autor uns nahebringt, ist eine von lutherisch-pietistischer Frömmig- keit geprägte. Diese hatte in Bach ihren wohl exzessivsten Vertreter; es ist eine sehr nach innen – ins eigene Herz – gewendete Art der Auseinandersetzung mit Gott. Dieses Herz hält demnach auch Zwiegespräch, zumal mit seinem Erlöser Jesus, dem Christus. Ihre Wur- zeln hat diese Art christlichen Bekennens letzt- endlich in lange nachwirkenden Schriften des späten Mittelalters, also der katholischen mys- tischen Theologie und Philosophie. Johannes Tauler, Jan van Ruysbroeck und zumal Thomas a Kempis sind hier zu nennen. Auch schon Luther hatte sich mit deren Gedanken ausein- andergesetzt und Bach hatte deren Bücher in seiner Hausbibliothek.

Ein Grundbedürfnis der Seele ist hier die „Imita- tio Christi“ – also die völlige Nachahmung Jesu. Bei Bach geht diese so weit, dass der Erlöser sogar aufgefordert wird, an Stelle seiner selbst doch eine völlige Hingabe der Seele anzuneh- men. Besonders hörbar ist das in der Alt-Arie „Können Tränen meiner Wangen nichts erlan- gen“, samt dem vorhergehenden Rezitativ „Ihr Henker, haltet ein“. All dies geht aber immer Hand in Hand mit dem aus den tiefsten Tiefen der Seele kommenden Eingeständnis eigener Schuld und Sündhaftigkeit, welche die ganze

«C’est le cœur qui sent Dieu et non la raison:
voilà ce que c’est que la foi. Dieu sensible au cœur,

non à la raison.
Le cœur a ses raisons,
que la raison ne connait point: on le sait en mille choses.»

Tragödie der Erlösung erst notwendig macht. Bach nützt alle Mittel seiner Kunst, um diese Fülle an Unaussprechlichkeiten zu Klang zu bringen. Eine bedeutende Rolle spielt dabei die Instrumentation. So erklingen an gegebe- ner Stelle eben „Oboi d’amore“ oder durch- aus mit Notwendigkeit „Oboi da caccia“ – also Jagdinstrumente. Auf diese Weise „erklingt“ eine von der katholischen Mystik im Mittel- alter – etwa von Mechthild von Magdeburg – poetisch-philosophisch ausgearbeitete Vor- stellung, dass Gott der sündigen Seele nach- jagt, und ebenso die sündige Seele ihrem Gott und Erlöser Jesus. Ja: In solchen Klangbildern ist Bach zweifellos „konservativ“, aber – so versteht sich’s – auf zeitlose Art, wie es eben gleichermaßen die Bilder, die Gefühle, die Hoffnungen und das Wissen eines gläubigen Menschen sind. Mag vieles von Bachs musi- kalischer Rhetorik den Menschen seiner Zeit wohlvertraut gewesen sein – damals wie heu- te müssen die Zuhörenden hinter all das „hin- ein-hören“. Denn hier handelt es sich freilich um Musik für die evangelische Karfreitagslitur- gie; aber in diese eingebunden ist zusätzlich eine intimste und heiligste Liturgie, jene des Gespräches der erlösungshoffenden Seele mit ihrem Erlöser – und dieser versteht jegliche Regung des Herzens, auch die, welche wir als Zuhörende nicht begreifen können.

Der hochbedeutende Philosoph, Mathemati- ker und Physiker Blaise Pascal (1623–1662), ein intensiv und innig Glaubender fasst all dies in seinen „Pensées“ – „Gedanken“ – so zusammen:

„Es ist das Herz, welches Gott wahrnimmt und nicht die Vernunft:
Hier ist das, was der Glaube eben ist.
Gott ist für das Herz wahrnehmbar,

nicht für die Vernunft.
Das Herz hat seine Vernunftgründe,
welche die Vernunft überhaupt nicht kennt: Sie sind in tausenden Dinge wissbar.“

Dass die Vernunftgründe des Herzens auf festem Boden stehen und dort begründet sind, das be- legen Pascals forschende Gedankengänge ebenso wie Bachs Wissen um die Theorie und Praxis der Tonkunst.

Prof. Dr. Johannes Leopold Mayer