Alexander Tikhonovitch Gretchaninov

(1864 – 1956)

Alexander Tikhonovitch GretchaninovAlexander T. Gretchaninov wird am 25. Oktober 1864 in Moskau als Sohn eines kleinen Handelsmanns geboren, der zwar lesen, aber nicht schreiben kann. Mit 10 Jahren wird Gretchaninov auf das Moskauer Gymnasium geschickt, wo er im Kirchenchor zum Solosänger aufsteigt. Mit 14 Jahren erst lernt er ein Klavier kennen, auf dem er sich selbst Melodien und Akkorde zusammensucht. Mit heimlicher Unterstützung seiner Schwägerin erlernt er das Klavierspiel soweit, dass er mit 17 Jahren gegen den Willen des Vaters das Gymnasium verlässt und am Moskauer Konservatorium aufgenommen wird. Von 1881 bis 1900 ist er mit Unterbrechungen am Konservatorium, erst als Schüler, später als Lehrer. Nachdem seine Leistungen als Pianist nicht überragend sind, wendet er sich der Komposition zu. Seine erste veröffentlichte Komposition ist ein Wiegenlied nach einem Text von Michael J. Lermontow (1814-1841) im Jahr 1889. Infolge eines Streits mit einem seiner Lehrer verlässt Gretchaninov im Jänner 1890 das Moskauer Konservatorium und wird im September als Stipendiat der Russischen Musikgesellschaft am Petersburger Konservatorium aufgenommen. Er bleibt bis 1893 und studiert bei Nikolai Rimsky-Korsakow Komposition und Instrumentation. 1891 heiratet er und erringt seinen ersten Erfolg in der Öffentlichkeit mit einer “Konzertouvertüre in d-Moll”. 1894 gewinnt er bei einem Wettbewerb den 1. Preis mit seinem “Streichquartett op. 2”. Das führt zu weiteren Veröffentlichungen seiner Werke. 1914 und 1915 sollte er beim gleichen Wettbewerb diesen Preis nochmals mit je einem Streichquartett gewinnen.

Am 26. Jänner 1895 dirigiert Rimsky-Korsakow die Uraufführung seiner “1. Sinfonie in h-Moll” in der ursprünglichen Fassung mit dem Scherzo im 5/4 Takt, das allerdings vier Jahre später ersetzt wird. Er versucht sich auch auf dem Gebiet der Oper, wobei er für seine erste Oper “Dobrinja Nikititsch” selbst das Libretto verfasst. Das Werk ist eine sgn. Legendenoper, d.h. die Grundlage des Librettos ist eine meist nationale Legende. “Dobrinja Nikititsch” ist ein berühmter russischer Krieger aus der Zeit der Christianisierung der Russen um das Jahr 1000. Die Oper entsteht in den Jahren 1896-1901. Sie wird am 27. Oktober 1903 am Bolschoi-Theater in Moskau erstaufgeführt mit Schaljapin in der Titelrolle.

Den Lebensunterhalt verdient er hauptsächlich durch Klavierstunden, zuerst in Petersburg und ab 1896 in Moskau. Angeregt durch einen Synodalchor wagt er sich auf das Gebiet der Kirchenmusik und erhält für seine Arbeit 1910 eine amtliche Anerkennung in Form einer jährlichen Pension von 2000 Rubel. Neben der Arbeit an eigenen Opern schreibt er verschiedene Bühnenmusiken, u. a. zu Tolstois “Zar Fedor” und “Der Tod Iwans des Schrecklichen”.

Gretchaninov war von Natur ein religiöser Mensch, vertrat dabei aber eine liberale Auffassung. So trennt er sich 1911 von seiner Frau, um mit der Frau eines russischen Malers zusammen zu leben. Seine zweite Oper “Soeur Beatrice” wird nach drei Aufführungen wegen religiöser Bedenken vom Spielplan abgesetzt. Die Revolution 1917 hat nicht nur den Verlust der kaiserlichen Pension zur Folge sondern verschlechtert auch die Lebensumstände als Ganzes. So ergreift er 1922 auf Einladung eines reichen amerikanischen Freundes die Gelegenheit, Westeuropa – besonders London und Prag – zu besuchen. 1925 siedelt er schließlich ganz in den Westen, nach Paris, wo er bis 1939 lebt. Er komponiert eifrig, veröffentlicht seine “Gesangschule, op. 8” (in englischer Sprache, entstanden zwischen 1895 und 1924) und eine Autobiographie in seiner Muttersprache. Bei Kriegsausbruch flieht er nach Amerika, wo er seit 1929 schon mehrmals gewesen war. 1940 läßt er sich in New York nieder und erwirbt 1946 die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er stirbt hochbetagt am 3. Jänner 1956 in New York.

Gretchaninovs Gesamtwerk umfasst viele verschiedene Gattungen, der Stil ist überwiegend epigonenhaft und verrät Einflüsse von Tschaikowsky, Borodin und Rimsky-Korsakow. Er beschäftigte sich mit dem reichen russischenVolksmusikschatz, vor allem der Tartaren und Baschkiren. Einen besonderen Platz nimmt Gretchaninov auf zwei Gebieten der russischen Musik ein: in den Kompositionen für Kinder und in der geistlichen Musik. Während bei den meisten russischen Komponisten die Kirchenmusik eine untergeordnete oder gar keine Rolle spielt, steht sie bei Gretchaninov an hervorragender Stelle. Sein neuer Stil auf diesem Gebiet wurde von den konservativen Kirchenmusikern anfangs heftig bekämpft. Einer breiten Ablehnung sah er sich vor allem später gegenüber, als er bei einer Reihe halb-liturgischer Werke Instrumentalbegleitung vorsah. Damit verstieß er gegen das Verbot des Gebrauchs von Instrumenten in der orthodoxen Kirche und schloss seine Werke dadurch vom gottesdienstlichen Gebrauch aus. – Selbst kinderlos, aber überaus kinderliebend wurde er durch die Tätigkeit an einer Musikschule zu zahlreichen Kompositionen für Kinder angeregt. Erst waren es Chöre, später folgten Opern und zahlreiche Lieder für Kinder. Die Stoffe fand er in Volksliedern und in der russischen Märchenwelt, z. B. für seine Oper “Snegurotschka” (das Märchen vom “Schneemädchen”). Aber auch aus der bis heute bekannten englischen Kinderlieder- und Kinderreimesammlung “Mother Goose” vertonte er sieben Texte.

Unter den zahlreichen kirchlichen Kompositionen ist besonders die “Vesper, op. 59” zu erwähnen, die 1912 komponiert, uraufgeführt und veröffentlicht wurde. Diese Vesper ist chorsinfonische Musik im Großformat, wodurch sich die Frage stellt, ob sie tatsächlich für den regulären Gottesdienst gedacht war. Wahrscheinlich war sie wie andere seiner kirchenmusikalischen Werke für sakrale Konzerte gedacht. Sein erstes liturgisches Werk (1897) – zu Ehren des Hl. Johannes Chrysostomus – fand große Beachtung, zählt der Heilige doch zu den vier großen Kirchenlehrern der Ostkirche. Insgesamt vier verschiedene Liturgien zu seinen Ehren entstanden für diesen hochverehrten Heiligen. Er schuf auch einen Zyklus mit Hymnen für die Karwoche. Als er längst in Westeuropa lebte, ließ er sich 1937 durch ein Preisausschreiben zur Komposition einer röm.-kath. Messe – “Missa festiva für gemischten Chor und Orgel, op. 155″ – und lateinischer Motetten mit Orgelbegleitung anregen, obwohl er weiterhin der orthodoxen Kirche angehörte. Ein noch ungewöhnlicheres Werk ist seine “Missa oecumenica, op. 142”. Sie entstand zwischen 1934 und 1939 und ist für 4 Solostimmen, Chor, Orchester und Orgel komponiert. Das besondere daran ist die Verwendung von orthodoxen, gregorianischen und hebräischen liturgischen Weisen, ein Zeugnis für Gretchaninovs liberale, religiöse Ansichten.

Röm.-kath. Messen:

  • 1937 Missa festiva, op. 155; für gemischten Chor und Orgel
  • 1939 Missa oecumenica, op. 142; für 4 Solostimmen, Chor, Orchester und Orgel
  • 1939 Messe, op. 165; für Frauenstimme oder Kinderchor und Orgel
  • 1942 Et in terra pax, op. 166; für gemischten Chor und Orgel
  • 1943 Sancti spiritu, op. 169; für gemischten Chor und Orgel

Text: Adelheid Hlawacek

Quellen:
The New Grove Dictionary of Music and Musicians; Bd 7, 1998
Die Musik in Geschichte und Gegenwart; Bd 5, 1989
Bild: Wikimedia Commons: Postkarte 1905-1910, unbekannter Photograph